WELTplus vom 20.02.2024
Zahlen zur Spielsucht
Laut einer BMG-Studie hat sich die Zahl der Spielsüchtigen in Deutschland verdreifacht. Jetzt kommt heraus: Auch bei dieser Studie gibt es Unsauberkeiten bei der Vergabe - und auch hier sind Ergebnisse und Methoden umstritten. Erneut rücken die Forscher die Daten nicht heraus.
Von Elke Bodderas
Es sind nicht gerade beruhigende Zahlen, die da aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) dringen. Danach gibt es einen sprunghaften Anstieg von Spielsüchtigen in Deutschland. Innerhalb weniger Jahre, so kann man aus einer Studie schließen, hat die Spielsucht ein epidemisches Tempo angenommen. So geht jetzt das Haus von Karl Lauterbach (SPD) von gegenwärtig 1,3 Millionen Süchtigen aus, die ihr Geld in Spielcasinos, an Automaten, bei Sportwetten oder im Online-Glücksspiel einsetzen. Stimmen die Zahlen, hätte in Deutschland ein Anstieg auf mehr als das Dreifache stattgefunden. 2019 waren es nach offizieller Zählung noch 400.000 Spielsüchtige gewesen.
Besorgniserregend sind auch die Zahlen zur Vorstufe der Sucht, von Menschen also mit "problematischem Spielverhalten". Ging das Ministerium 2019 noch von rund 0,7 Prozent der Bevölkerung aus, kommt die jüngste Erhebung des BMG auf acht Prozent in der Altersgruppe der 18- bis 70-Jährigen. Entsprechend alarmiert gibt sich der Suchtbeauftragte der Bundesregierung Burkhard Blienert (SPD): Das illegale Glücksspiel habe seit der Pandemie deutlich zugenommen, so informierte Blienert im Dezember Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Es drohe "Kontrollverlust", wenn eine geplante Entschärfung im Strafgesetzbuch aus dem Hause Buschmann Wirklichkeit werde. Stattdessen will Blienert Sportwetten bis 23 Uhr verbieten sowie härtere Strafen bei illegalem Glücksspiel.
Bloß: Kann das alles überhaupt stimmen, was das Ministerium da vermeldet? Blienerts Vorstoß könnte sich bald als voreilig herausstellen. Von vielen Seiten rütteln Kritiker an der Glaubwürdigkeit der BMG-Studie und ihrer drastisch aus dem Rahmen gefallenen Ergebnisse.
Schon im November war das BMG mit einem viel beachteten "Glücksspielatlas" vor die Öffentlichkeit getreten, einer groben Übersicht über die Ergebnisse der Sucht-Untersuchung. Das Papier stützt sich auf den letzten "Glücksspiel-Survey", der alle zwei Jahre erscheint. Die regelmäßige wissenschaftliche Erhebung der Spielsucht in Deutschland war bis 2019 noch Aufgabe der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) gewesen, die jetzt aber auf Wunsch von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) vor der Auflösung steht. So wanderte der Auftrag an das Hamburger Institut für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung (ISD) und die Universität Bremen weiter, in deren Obhut nun der offizielle "Glücksspiel-Survey" erscheint.
Unter Oppositionspolitikern und Experten regen sich angesichts der krassen Ergebnisse inzwischen heftige Zweifel. Im Verdacht steht die wissenschaftliche Güte der Erhebung und vor allem das BMG selbst - schon die Vergabe des Studienauftrags wirft Fragen auf. So haben das Hamburger ISD und die Uni Bremen ihre Anträge auf Förderung für den "Glücksspielatlas" zwar erst im August 2023 eingereicht. Fertig gestellt war der "Glücksspielatlas" dann aber überraschend schnell. Schon im November, nur drei Monate nach dem offiziellen Antrag, hatte das BMG die Ergebnisse parat. Für die rekordverdächtig flinke Forschung kann Lauterbachs SPD-Parteifreund Blienert eine plausible Erklärung liefern.
Blienert hatte schon Ende 2022, also neun Monate vor dem Förderantrag, bei der Jahrestagung des Fachverbands Glücksspielsucht auf einem Podium erklärt, das BMG habe "auf seine Bitte hin" den "Glücksspielatlas" "beim ISD in Auftrag gegeben". Auf die Frage von WELT, warum das Ministerium den "Glücksspielatlas" nicht ausgeschrieben habe, antwortete ein Sprecher, sein Haus habe die 134.240 Euro Förderung als "Zuwendung" vergeben. Ausschlaggebend gewesen sei das "Alleinstellungsmerkmal" der Institute. Rechtlich ist das Ministerium bei Fördersummen unter dem Schwellenwert von 140.000 Euro zwar tatsächlich nicht zur Ausschreibung verpflichtet. Nicht beantworten konnte der Sprecher jedoch die Frage, worin die besondere Eignung der Hamburger und Bremer Forscher besteht.
Laut Gemeinsamer Glücksspielbehörde der Länder (GGL) beschäftigen sich mehr als zehn deutsche Institute mit Glücksspielforschung - darunter auch die Berliner Charité. Obendrein stand der Studienleiter und Chef des Bremer Instituts Tobias Hayer schon einmal im Mittelpunkt eines staatlichen Vergabeskandals. 2021 wollte die frisch geschaffene GGL die Wirkung des neuen Glücksspielstaatsvertrags mittels einer Evaluation überprüfen. Leiter der Untersuchung: Hayer. Schon damals musste er keine besondere Überzeugungsarbeit für den 750.000-Euro-Auftrag leisten: Bei der europaweiten Ausschreibung war er der einzige Bieter.
"Business Insider" berichtete im September über den Fall. Auf Anfrage des Wirtschaftsmagazins bezeichnete die Behörde den Vorfall als "sehr bedauerlich". Eine Erklärung lieferte sie nicht.
"Erhebliche Zweifel an der Neutralität der Studie"
CDU-Suchtexpertin Borchardt will sich nun mit der Antwort aus Lauterbachs Ministerium nicht zufriedengeben. "Das BMG verstrickt sich fortlaufend in Widersprüche", kritisiert sie gegenüber WELT. "Der Verdacht liegt nahe, dass hier schon im Vornherein Absprachen zwischen Studienerstellern und dem BMG getroffen wurden. Das lässt für mich erhebliche Zweifel an der Neutralität der Studie aufkommen." Sie erwarte, dass das BMG diesen Vorgang lückenlos aufklärt.
Eine Erklärung für die plötzlich aufgepoppte Spielsucht-Anfälligkeit der Deutschen bei gleichbleibenden Umsätzen der Glücksspiel-Industrie lässt sich nirgends finden. Und so rätseln Experten darüber, ob die Erkenntnisse schlicht an methodischen Schwächen der Studie liegen. So bescheinigt die Statistikerin Katharina Schüller dem "Glücksspiel-Survey" "fragwürdige Präzision und Intransparenz". Schüller ist Chefin der Beratungsfirma Stat-up und Vorstandsmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft.
In ihrem 140 Seiten umfassenden Gutachten kommt sie zu dem Schluss, dass der "Survey keine belastbare Entscheidungsgrundlage hinsichtlich der Bewertung und Anpassung gesetzlicher Regelungen" sei. Schüllers Ansicht nach haben die Autoren nicht sauber gearbeitet: "Für repräsentative Stichproben muss man sorgfältig kontrollieren, wen man erreicht und wenn nicht. Das ist Grundwissen der Survey-Statistik, und das haben die Autoren nicht gewährleistet", erklärt die Statistikerin gegenüber WELT: "Wenn man dann noch in Betracht zieht, dass nur zehn Prozent der Angeschriebenen in der Online-Befragung geantwortet haben, aber fast 30 Prozent der Angerufenen, wird die Argumentation nicht gerade stichhaltiger."
Gegenüber WELT rechtfertigen sich die Autoren ebenso wie das BMG: Die Zahlen seien "kaum vergleichbar". Anders als 2019 hätten die Forscher dieses Mal auch das Internet zur Befragung genutzt. Aber wie könnte das einen derart krassen Zahlensprung begründen? Dazu ist ebenso wenig zu erfahren wie über den Verbleib von Rohdaten oder Befragungsbögen.
"Offensichtlich, dass hier nicht sauber gearbeitet wurde"
Auch CDU-Gesundheitspolitikerin Borchardt ist sich sicher, dass sich aus den neuen Spielsucht-Zahlen keine politischen Maßnahmen ableiten lassen. Der Glücksspiel-Atlas sei fragwürdig: "Es ist für mich offensichtlich, dass hier nicht sauber gearbeitet wurde. Im Sinne der wissenschaftlichen Transparenz müssen die Daten veröffentlicht werden", so Borchardt. Für sie sei der "explosionsartige Anstieg von Spielsüchtigen" nicht mit möglichen Sondereffekten durch die Coronapandemie erklärbar. Hier komme die Frage auf, ob Minister Lauterbach wie auch dem Drogen- und Suchtbeauftragten der Bundesregierung der starke Anstieg nicht sogar gelegen komme, um Aktionismus und ideologische Verbote zu rechtfertigen".
Die Glücksspiel-Politik des BMG deckt eine offenkundige Parallele zum Fall der "Stoppt-Covid"-Studie des Robert-Koch-Institutes auf, die den Coronamaßnahmen des BMG nachträglich ein gutes Zeugnis ausgestellt hatte. Auch hier hatte Lauterbachs Ministerium die Studie ohne Ausschreibung vergeben. Auch hier sind die Daten nach wie vor unter Verschluss. Das ist auch Borchardt aufgefallen: "Dass nun der Verdacht aufkommt, nur opportune Forschungsergebnisse dürften an die Öffentlichkeit, ist bildgebend für diese Gesundheitspolitik."